Die Hochschullehre in Zeiten der Disruption

Ein Wort geistert herum. VUCA-Welt. Vorbei die Zeiten, in denen das Leben auf unserem Planeten in klaren Bahnen verlief und damit planbar war. Heute reden wir von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Nichts ist sicher, nichts einfach, nichts eindeutig. Das dies nicht mit den klar definierten und starren Bildungswegen einhergeht, die wir jahrzehntelang gepflegt haben, ist offensichtlich. Doch wie sollte Bildung aussehen, damit sie unsere Kinder und Lernenden so gut wie möglich auf die VUCA-Welt vorbereiten kann?

Pam Moran führt in diesem Video vier Felder an: Keine Curricula, keine Prüfungen, eine Pädagogik, bei der ein aktiver Lernender im Zentrum steht und der «Lehrende» zum Lernbegleiter wird, und eine neue Verwendung von Ressourcen, sei es ein flexibler Stundenplan, oder digitale Lerninhalte. Sehr ähnlich klingt es bei Christoph Schmitt, einem Bildungsberater, der sich seit langer Zeit intensiv mit den Forderungen an ein «neues Lernen» auseinandersetzt: Abschaffung der Fächer, Klassen, Jahrgänge, kein Unterricht, keine Prüfungen, keine Noten, keine Lehrpläne, keine Lehrer und kein Papier. Woher kommen diese Überlegungen und Forderungen? In einer sich rasch ändernden Welt mit hoher Komplexität sind starre Abschlüsse nicht mehr zeitgemäss (Warum es keine richtige Berufswahl mehr gibt). Berufsbilder verändern sich rasant, neue entstehen, andere verschwinden. Schlüsselkompetenz in der VUCA-Welt wird somit die Fähigkeit zum Lebenslangen Lernen. Und die Hochschule muss es als eine ihrer Kernaufgaben begreifen, ihre Studierenden dazu befähigen, diese Schlüsselkompetenz bereits im Laufe ihres Studiums zu erwerben.

Ada Pellert, Rektorin der Fernuniversität Hagen, für den Stifterverband Deutschland

Um dies zu ermöglichen, braucht es ganz neue Perspektiven und Massnahmen, die wenig mit dem traditionellen Bild der Hochschule zu tun haben.

  • Der Bildungsweg eines Studierenden muss selbstbestimmt sein, das heisst der Studierende muss ihn selbst organisieren und steuern (können). Dies fördert die Selbstreflexion über Bildungsziele, Lernbedürfnisse und Lernfähigkeit.
  • Der Bildungsweg muss flexibel zu gestalten sein, sowohl inhaltlich als auch zeitlich. Der Studierende muss die Möglichkeit haben, auf ändernde Bedürfnisse und Interessen zu reagieren. Da Abschlüsse per se durch die Volatilität an Bedeutung abnehmen werden, muss der Fokus auf dem individuell zusammengestellten Inhalt liegen und nicht auf einem Titel.
  • Dies erfordert eine höhere Transparenz. Es muss von aussen einsehbar sein, was der Studierenden in seiner Zeit an der Hochschule erarbeitet hat- eine (digitale) Identität mit Hilfe von Portfolio-Prozessen anstelle von Prüfungen muss etabliert werden.
  • Sämtliche Arbeiten an der Hochschule müssen arbeitsplatz- und realitätsnahe sein. Es braucht eine komplett problem-basierte Lernumgebung mit komplexen, interdisziplinären Aufgaben, die «zu gross» sind für einen Einzelnen und im Team erarbeitet werden müssen. Damit wird Wissensaustausch und Lernen in einem Netzwerk von Experten gefördert.
  • Kollaboration und damit einhergehend Kommunikation, Empathie, Wertschätzung und Teambildung sollen einen hohen Stellenwert einnehmen und den grossen Teil der Präsenzzeit einnehmen. Reine Wissensvermittlung hingegen soll jederzeit und an jedem Ort möglich sein.

Der Grundstein für die Schlüsselkompetenz Lebenslanges Lernen liegt also darin, schon im Hochschulstudium die VUCA-Arbeitswelt einzubinden und die auch in der beruflichen Weiterbildung immer stärker geforderte Selbstlernkompetenz und Teamfähigkeit zu etablieren. Denn die komplexen Herausforderungen in der heutigen sich rasch ändernden Arbeitswelt sind nicht mehr von einem Einzelnen mit gegebenem Wissensstand zu lösen.

Um in der VUCA-Welt nicht nur zu bestehen, sondern sich weiterzuentwickeln und Probleme zu lösen, müssen Netzwerke entstehen, in denen sich das Individuum austauschen und lernen kann. Es geht also im Wesentlichen um Konnektivismus, das Lernen von- und miteinander, auch social learning oder social collaboration genannt. Nur mit Hilfe eines Netzwerkes können komplexe Aufgaben angegangen werden, kann Wissen ausgetauscht und damit erhalten und erweitert werden, kann Neues entstehen, Innovation passieren. Es gehört zu den essentiellen Aufgaben der Bildungsinstitutionen, dies bei ihren Lernenden zu initiieren und zu fördern.

Anja C. Wanger, eine Bildungsexpertin, erklärt im unterstehenden Video, wieso persönliche Lernnetzwerke die Lern- und Arbeitsumgebungen der Zukunft sind:

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=0rJysWDPI5c]

Und was hat dies alles denn nun mit den «digitalen Kompetenzen» zu tun, von denen alle reden und die angeblich essentiell sind in unserer digitalisierten Welt? Sollten nicht diese in den Vordergrund gerückt werden? Die Antwort ist einfach: die Fähigkeit zum vernetzten oder lebenslangem Lernen ist DIE digitale Kompetenz, denn alle anderen digitalen Kompetenzen sind entweder Voraussetzung oder logische Konsequenz des vernetzten Lernens. Um diese Diskussion zu führen, ist es zunächst wichtig, den Begriff «digitale Kompetenzen» zu definieren. Vordergründig steht hier die «digital literacy», also die Fähigkeit, digitale Technologien und Werkzeuge anzuwenden. Doch, wie zum Beispiel die explorative Studie von Sabine Seufert im Auftrag des Schweizerischen Wissenschaftsrates sehr eloquent ausführt, steckt dahinter ein mehrschichtiges Gebilde, dessen oberste Ebene die Persönlichkeitsentwicklung als Verständnis vom Unterschied von Mensch und Maschine darstellt. Es gilt die Fähigkeiten zu entwickeln, die nicht einfach durch Automation und künstliche Intelligenz ersetzt werden können. Diese werden im Allgemeinen zusammengefasst als Kreativität, Kritisches Denken, Kommunikation und Kollaboration. Diese Fähigkeiten sind immer sowohl ohne als auch mit einer digitalen Komponente versehen.

Sabine Seufert, Professorin für Wirtschaftspädagogik in «Notions of Disruption- Digital Competences»

Doch dem allem zuvor gibt es eine fundamentale Voraussetzung sowohl zum Erwerben von digitalen Kompetenzen als auch für die Bereitschaft zum Lebenslangen Lernen: Es ist das Mindset, die innere Einstellung, die wir zu uns selbst und zu unserer Umwelt haben. Es gilt, vom Bild des «Experten, der ausgelernt hat» wegzukommen und sich selbst als offenes, sich wandelndes Wesen zu sehen, dass nur durch Weiterentwicklung, Vernetzung und Zusammenarbeiten auf Augenhöhe weiterkommt und bestehen kann. Und es ist gerade dieses Mindset, das an Hochschulen noch gefördert werden muss. Als Bildungsinstitution hat man heute das Wissen gepachtet, ist eine Autorität, ein Bollwerk, das keine Einflüsse von aussen braucht. Vernetzung, auch innerhalb einer Hochschule, ist nicht nötig, denn jeder weiss, was er weiss. Und dann erst die Gefahr, an Reputation zu verlieren, wenn sich Dozierende oder ganze Hochschulen als «nicht allwissend» outen, wenn sie ihre Studierenden auffordern, Wissen «von aussen» hinzuzuziehen!


Aus lernOS von Simon Dückert
Eigene Folie

Vielleicht ist also die grösste Herausforderung bei der Weiterentwicklung einer Hochschule, dieses für ein Leben und Arbeiten in der VUCA Welt essentielle Mindset zuerst innerhalb der Institution zu entwickeln, um es dann vorzuleben und den Studierenden entsprechend mitzugeben. Erst wenn sich jeder als Knoten in einem Netzwerk von Experten versteht und als dieser dazu beitragen will, volatile, unsichere, komplexe und mehrdeutige Situationen zu meistern und Probleme zu lösen, können die für die heutige Arbeitswelt essentiellen Kompetenzen erworben werden. Und wie kann dies bewerkstelligt werden? Eine gute Möglichkeit bietet sich dazu zum Beispiel am 7. Juni in Zürich. Dort findet das erste Barcamp zum Thema partizipatives und kollaboratives Lernen statt- eine Veranstaltung, an der Partizipation und Kollaboration direkt erlebt werden kann. Von mir natürlich eine grosse Empfehlung zur Teilnahme!

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Mehr Informationen und Anmeldung: https://www.eventbrite.com/e/barcamp-tram-museum-tickets-59452535133

Photo by Franck V. on Unsplash


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